Juso-Landesvorsitzender Afsali: "Grenzkontrollen: Diese bitteren Fragen müssen wir uns jetzt stellen"

16. September 2015

Zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen nimmt Juso-Landesvorsitzender Tobias Afsali wie folgt Stellung:

"Die Ereignisse der letzten Tage werfen einige bittere Fragen auf: Wie kann unsere Bundesregierung nur so leichtsinnig und kurzsichtig sein, die europäische Idee an der Frage des menschenwürdigen Umgangs mit Geflüchteten scheitern zu lassen? Woraus bestehen unsere Werte und unsere oft zitierte Kultur, wenn wir es nicht schaffen auf unserem Kontinent ein paar Millionen Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen?

Wer gibt uns das Recht, den größten Zufall unseres Lebens - den Ort unserer Geburt - so monströs vor uns her zu tragen, dass Hilfe für die Ärmsten und Schwächsten aus anderen Teilen der Welt schon als Wohltat gilt?

Am bayerischen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, dem 13. September, scheut sich die bayerische Staatsregierung nach tagelangem Betteln für „grünes Licht" aus Berlin nicht, die Grenzen nach Österreich dicht zu machen.

Mehr Zynismus, mehr Heuchelei geht nicht

Wir Jusos sehen in der Schließung der Grenzen daher vor allem eine Verschärfung der humanitären Katastrophe vor der „Festung Europa" und ein Konjunkturprogramm für Schlepperbanden. Wir erleben ein Nachgeben nach Rechtsaußen statt dem klaren Bekenntnis zu einer gelebten Willkommenskultur.

Die Liste der Fehler, die die EU und ihre Mitgliedsstaaten seit Jahren in der komplexen Frage der Asylpolitik begangen haben, ist lang. Ein Dublin-System, das zwar die Zuständigkeit der jeweiligen Länder für das Asylverfahren, jedoch keine Aufnahmeschlüssel beinhaltet, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Jedoch war es die plötzlich zur „Flüchtlingskanzlerin" erhobene Angela Merkel, die 2011/12 im Rahmen der Dublin-Überarbeitung ein System über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa mit ihrem Parteifreund Cameron (Großbritannien) verhindert hat. Der Grund warum das System, nach dem Deutschland jetzt am Lautesten schreit, damals vom Tisch gefegt wurde war einfach:

Deutschland lag als größtes europäisches Land bei der Aufnahme von Geflüchteten nur im EU-weiten Mittelfeld! Und selbst wenn wir dieses europaweite System nun hätten: deutlich weniger Flüchtlinge würde das größte Mitgliedsland Deutschland sicher nicht zugewiesen bekommen. Warum also all der Terz?

Offen rechtspopulistischer Kurs der CSU

Die Durchtriebenheit, mit der die CSU-Spitze erneut einen offen rechtspopulistischen Kurs fährt, ist brandgefährlich. Mit Vehemenz vertritt sie eine Einstellung, die sich nicht nur von der Lebensrealität, sondern auch vom Wertekanon unserer Gesellschaft entfernt. Während Tausende Menschen ehrenamtlich Flüchtlinge versorgen, betreiben Seehofer, Scheuer und Herrmann Propaganda auf Kosten der Schwächsten.

Der offene Schulterschluss zwischen der CSU und Victor Orbáns Fidesz in Ungarn ist ein fatales Signal. Es bleibt uns Jusos unerklärlich, dass ein paar Tage nach der harschen, völlig berechtigten Kritik an der Grenzschließung zwischen Ungarn und Serbien die gleichen Fehler ein paar Hundert Kilometer weiter nordwestlich wiederholt werden. Wie kann sich die Bundesregierung an der Spirale nach unten beteiligen und die unmenschliche Politik anderer Staaten als Rechtfertigung für die eigene Abschottungspolitik missbrauchen?

Doch mit der Abschottung ist es nicht getan. Der faule Geruch von 1993 liegt in der Luft. In Deutschland vergeht im Jahr 2015 keine Nacht, in der nicht irgendwo eine Flüchtlingsunterkunft angezündet wird. Weit über 200 Brandanschläge in diesem Jahr, bei denen wie durch ein Wunder noch keine Toten zu beklagen sind, haben zu fast keiner Verfolgung der Täter geführt.

Wieder schaut man weg. Wieder ermittelt man „in alle Richtungen". Als ob es nie einen NSU gegeben hätte werden die rassistischen Menschenfeinde als „Asylkritiker" verharmlost, während „illegal Einreisende" kriminalisiert werden. Geschichte wiederholt sich nicht? Wollen wir es hoffen.

SPD-Spitze in Berlin knickt ein

Nachdem München vor zehn Tagen ein leuchtendes Beispiel eines weltoffenen Europas war, nachdem die Stadtspitze um Dieter Reiter (SPD) alles getan hat, um München zu einem sprichwörtlichen Anlaufhafen für Menschen in Not zu machen, wo erst geholfen wird anstatt nach Bürokratie zu schreien, wird im Bruchteil einer Sekunde alles in Frage gestellt.

Nicht in München, sondern in Berlin. Die SPD-Spitze im Bund, die in den letzten Tagen noch verkündet hat, dass es mit ihr keine Verschärfung des Asylrechts geben wird, gibt nun dem Druck der CDU und vor allem der CSU nach und beteiligt sich am Trauerspiel des Wegschauens, Schuldzuweisens und Abschottens.

Ich beteilige mich nicht am unreflektierten, generellen SPD-bashing. Dafür sind zu viele unserer Genossinnen und Genossen Teil der großartigen Menschenmassen, die ohne langes Fragen das tun, was richtig ist: Helfen wo es geht. Dieter Reiter, Hannelore Kraft, unzählige Bürgermeisterinnen und Landtagsabgeordnete: sie alle können nichts für das Einknicken der Parteispitze in Berlin.

Diese Menschen mit Sigmar Gabriel in einen Topf zu werfen ist so ungerecht wie die grüne Basis mit Winfried Kretschmann gleichzusetzen. Beides zeugt von einem schwarz-weiß-Denken, das der Situation nicht angemessen ist.

Eine Gesellschaft, die das Wort „Gutmensch" zum Schimpfwort erklärt, offenbart viel über ihre Geisteshaltung. Natürlich ist die Aufgabe, mehreren Hunderttausend Menschen innerhalb weniger Monate Zuflucht zu gewähren nicht im Handumdrehen gemeistert. Dem freundlichen Verteilen von Wasser und Decken am Münchner Hauptbahnhof - das ich mit keiner Silbe kleinreden möchte - müssen Monate und Jahre harter, kontinuierlicher Arbeit mit traumatisierten Menschen folgen, die alles verloren haben. Ja, das wird Geld und Kraft kosten.

Und trotzdem dürfen, nein müssen wir dem Vorwurf unserer „linken Realitätsferne" klar kontern: Wer, wenn nicht wir, soll diesen Menschen helfen? Wir haben das unfassbare Glück in einem der reichsten Länder auf dem reichsten Kontinent der Welt zu leben. Deutschland hat zweistellige Milliardenbeträge an Steuern eingenommen mit denen am Anfang des Jahres nicht zu rechnen war.

Unser europäischer Reichtum basiert zu einem Großteil auf der jahrhundertelangen Ausbeutung der Länder, deren Bürger wir heute als „Wirtschaftsflüchtlinge" beleidigen. Unsere Waffenlieferungen ermöglichen die Kriege, vor denen die Menschen fliehen müssen. Unsere bedingungslose Hilfe für Flüchtlinge ist keine milde Gabe.

Es ist das absolut Mindeste, was wir tun können. Es ist nicht mehr und nicht weniger als den ersten Artikel unseres Grundgesetzes mit Leben zu füllen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Was ist an diesen Sätzen so schwer zu verstehen?"